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  • Aurore Camard

Bewegung: der Schlüssel zu unserer Entwicklung

Du wurdest als Mensch mit Milliarden von Nervenzellen geboren und diese Anzahl änderte sich kaum bis heute. Wie kann es denn sein, wenn du als Neugeborenes so viele Neuronen wie ein Erwachsener besitzt, dass du so „wenig“ Fertigkeiten beherrschen konntest? Liegen, Saugen, Schlafen, Verdauen sind wohl die Fähigkeiten, die ein Kind mit sich per

Geburt trägt. Fehlanzeige bei Stehen, Gehen und Sprechen. Was ist denn der Schlüssel, der jeden Neugeborenen zu einem selbstständigen überlebensfähigen, integrierten, gesellschaftsfähigen und selbstbewussten Erdbewohner quasi „verwandelt“?



Die frühkindliche Entwicklung in Bilder


Die Evolution des Menschen

Wenn wir die Menschheitsgeschichte betrachten, insbesondere die Entstehung des Menschen als eigene Spezies, fallen 3 wichtigen Entwicklungsstufen auf.


Raus aus dem Wasser, rein ins irdischen Leben

Aus den Amphibien entwickelten sich zuerst unsere Urvorfahren nach den Reptilien, die vor etwa 300 Millionen Jahren auftraten und denen die Besiedlung des Festlandes vollständig gelang. Ihr Bewegungsmuster begrenzte sich auf ein einfaches vorwärts-rückwärts Kriechen auf dem Bauch. Mit der Zeit entwickelten sich Beine mit Krallen für das sichere und schnellere Vorwärtsgehen. Schon damals galt: wer sich schneller bewegt, sichert

sich sein Futter und das Überleben seiner Art.


Sicherheit durch Herdenleben

Über mehrere Millionen von Jahren, wo Feinde und Mitbewerber zahlreicher wurden, entstand die Linie der Säugetiere. Sie überlebte bis heute Dank der revolutionären Strategie der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts innerhalb der Spezies. Die Säugetiere bieten ihren Nachkommen in der ersten Zeit nach der Geburt Schutz und stellen ihnen Nahrung zur Verfügung. Zwar wurden dadurch deutlich weniger neue Tiere geboren,

ihr Überleben wurde jedoch durch diese neue Denkweise deutlich verbessert. Damals galt also schon „Qualität vor Quantität“.


Nun steht der Mensch auf

Als Krönung zu diesem bedeutsamen Schritt erfolgte auch der aufrechte Gang. Aus dem Bedürfnis, seine Nahrung zu sichern, sich schneller und sicherer zu bewegen, richteten sich unsere menschlichen Vorfahren nach und nach gegen die Schwerkraft auf und optimierten über mehrere Zeitalter den Zugang zu unserer oben-unten Dimension der Bewegung.


Jetzt ist Zeit für Technik und Kunst

Die dritte Kernentwicklung, die dem Urmenschen zum modernen Menschen verhalf, stellte die Werkzeugbenützung dar. Alles, was in der Natur (Stock, Stein usw.) vor seinen Füßen vorhanden war, diente unseren Vorfahren als erste Urwerkzeuge.

Mit der Zeit entwickelten sie auch die Fertigkeit, selbst eigene Werkzeuge mit diesem ersten Urwerkzeugen herzustellen: vom Silex (zum Fleischschneiden, Fellverarbeitung und Jagen) und Flint (zum Feuermachen) über das Feuer an sich (Wärme, Schutz vor Feinden und Konservierung der Nahrung) bis zum Bau der Behausung und erster Siedlungen. Dies wurde durch ein gezieltes und geschicktes Einsetzen beider Hände im unmittelbaren

Mittelfeld sowie Vordenken und Planung ermöglicht. Das Zeitalter des Denkens und der Handgeschicklichkeit wurde geboren.


Ab diesem Zeitpunkt entstanden neben den den Alltag erleichternden technischen Erfindungen auch kreativ und künstlerisch verzierte Gegenstände und auch die Wandmalerei. Dieses Erbe der Evolution können wir heutzutage in Museen betrachten und bewundern.


Sprache oder die Krönung der menschlichen Entwicklung

Als Krönung der Menschheitsgeschichte kam die Sprachentwicklung in diesem Zeitalter hinzu. Die Sprache, die uns ermöglicht, unsere Vorhaben und Gefühle auszudrücken, ist das entscheidende Merkmal zwischen uns Menschen und der Tierwelt.


Die Frühkindliche Entwicklung: menschliche Evolution im Schnelltempo

Kommen wir nun nach dieser geschichtlichen Betrachtung der Evolution zu unserem Neugeborenen zurück. Es gibt viel mehr Gemeinsamkeiten als du jetzt denken magst. Denn diese menschengeschichtliche Entwicklung in unseren drei Grunddimensionen der Bewegung vorne-hinten, oben-unten, rechts-links (bzw. XYZ in der Mathematik) spiegelt sich ebenfalls in der motorischen, sozialen und kognitiven Entwicklung von unserem jüngsten Erdbewohner wider.


Das Baby wird geboren und verlässt seine Wasserwelt

Nach der Geburt besteht die erste Hürde für das Baby darin, sich in der Schwerkraft zurechtzufinden. Wie die Amphibie verlässt das Baby zuerst das Wasserelement (Fruchtblase im Bauch seiner Mutter) und es kann vorerst nur eines: auf dem Rücken (bzw. Bauch) liegen. Es ist nun der Schwerkraft ausgesetzt. Seine erste Aufgabe besteht also darin, sich in die Dimension vorne-hinten zurechtzufinden. Seine angeborenen Reflexe und Instinkte (an der Brust saugen, Kriechbewegung zur Brust, Kopf drehen zum Atmen) werden in seinem Kleinhirn als Werkseinstellung gespeichert und sichern ihm sein Überleben in den ersten Tagen nach der Geburt. Nicht umsonst wird auch diese untere Gehirnpartie umgangssprachlich Reptilienhirn genannt. Eine Hommage an unsere Urvorfahren.


Das Baby fühlt sich bei seiner Mutter am sichersten

Wie bei den Säugetieren, wird das Neugeborene nun von seiner Mutter und seiner Ursprungsfamilie genährt, gepflegt, geschützt. Sie verleihen ihm ein Gefühl der körperlichen Sicherheit, der sozialen Zusammengehörigkeit - zusammengefasst: Geborgenheit.

Es erfährt dort sein emotionales Zuhause, den Ort, an dem es jederzeit wieder zurückkehren kann, körperlich und emotional zurückfallen und sich wieder körperlich und emotional aufrichten darf.

Das Baby wird in dieser Phase zum Kleinkind und richtet sich vorerst auf Halbhöhe: zuerst durch Aufrichten auf seine Hände und Vorderarme, mit dem Römersitz, durch Sitzen und Aufrichten auf seine Knie, bevor es sich kräftig in seiner vollen Größe auf seinen Füßen aufrichten kann. Seine Familie, sein Umfeld begleitet es durch Ermutigung und feiert mit ihm jede einzelne Zwischenphase. Dies stärkt wiederum seine emotionale Stabilität, sein Forschergeist, sein Zurechtfinden in der Oben-Unten-Dimension unseres Bewegungsmusters und ist Voraussetzung für jede weitere Entwicklung.


Das limbische System, das Kontrollzentrum für unsere Gefühle, sitzt auch auf Halbhöhe zwischen Kleinhirn und Hemisphären. Die scharfe zeitliche Trennung unseres Zurechtfindens in der Rechts-Links-Dimension finden wir in der menschlichen Urgeschichte, jedoch nicht in der kindlichen Entwicklung. Sie entwickeln sich nur leicht zeitlich verzögert und parallel. Denn während das Baby mit der Schwerkraft spielt, erforscht es durch zufälliges Rollen auf einer Seite, dass seine Muskulatur ihm das Drehen ermöglicht. Diese Zufälle trainieren seine muskuläre Kraft und aus Zufall wird bald Absicht!


Greifen, erfreifen und begreifen

Mit der Zeit erforscht auch das Kind diese langen beweglichen Stange vor sich (die wir Arme nennen): aus zuerst reflexartigen werden schließlich bewusste Greifbewegungen. Wo es anfangs nur nach links mit der linken Hand greifen kann, begreift es, dass es auch mit links nach rechts greifen kann und umgekehrt. Aus Greifen wird Ergreifen und Begreifen. (Die deutsche Sprache ist so einzigartig und kann es am besten beschreiben.)

Diese Beidseitigkeit wird durch zufällige und spielerische Überkreuzbewegungen gefestigt und bald kann sich der junge Erdbewohner grobmotorisch mit Hand und Fuß selbstständig bewegen.

Die Lateralität wird physiologisch bekanntlich durch die beiden Gehirnhälften gesteuert.


Entwicklung durch Verknüpfung der Gehirnbereiche

Was sich makroskopisch in der menschlichen Geschichte über Millionen von Jahren aufzeigte, spiegelt sich in der kindlichen Entwicklung und Gehirnorganisation wider. Zuerst zufällige und immer wieder trainierte Bewegungen ermöglichen die dynamische mikroskopische Verbindung unserer drei Gehirnbereiche zwischen einander.


Diese physiologischen dreidimensionalen Verknüpfungen werden durch Bildung von Synapsen ermöglicht. Diese entwickeln sich bis zum Ende unseres 25. Lebensjahres automatisch (darüber hinaus bedarf es das Lernbewusstsein des erwachsenen Menschen).


Voraussetzung ist das Vorhandensein von wichtigen Nährstoffen: die essenziellen Omega-3-Fettsäuren (essenziell, weil der menschliche Organismus diese nicht selbst herstellen kann). Diese Fettsäuren bilden u.a. die sogenannte Myelinschicht, eine Schutzschicht rund um die wichtigsten zentralen neuralen Bahnen zwischen den Gehirnbereichen. Sie ermöglicht die schnellere sichere Verbindung - eine neurale Autobahn.


Paläontologen und Anthropologen bestätigen, dass sich die stärksten Siedlungen, die größten Zivilisationen, die prägnantesten Ereignisse in der Menschheitsgeschichte stets in Meeresnähe entwickelten bzw. stattfanden, wo die Verso

rgung der dort ansässigen Menschen mit marinen Omega-3 Quellen gesichert war. Dies ist aber eine andere Geschichte, eine Ernährungsgeschichte, eng mit der Bewegungsgeschichte der Menschheit verbunden.


Mehr zu der Wichtigkeit der Omega-3 können Sie in einem weiteren Blogbeitrag lesen: Omega-3: Hype oder steckt wirklich etwas dahinten?



Artikel veröffentlicht im Impuls - Zeitschrift des Österreichischen Berufsverband für Kinesiologie (Nr. 49, 1/2023, Seite 30-31) Link

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